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Ich bin Kerstin und gleichzeitig Frau Hochhaus. Aber die beiden kommen sich eigentlich nie in die Quere.
Ich bin große Schwester, aber auch ein bisschen die strenge Erzieherin. Aber eher große Schwester. Eine große Schwester ist eine Frau irgendwo zwischen der „klassischen“ (d.h. ekelhaft patriarchalen) Mutter- und Freundinnenrolle. Eine große Schwester ist eine Frau, zu der man aufschauen kann; eine Frau, von der man lernen kann und vor allem will. Eine große Schwester ist eine Frau, die anderen erklären kann, was ihre Sicht auf die Dinge ist, die ihre Erfahrungen – zum Beispiel beim Strumpfhose-Anziehen – mit anderen teilt.
Erst erkläre ich dir also ganz „praktische“ Dinge für den Alltag, zum Beispiel, wie du mit Excel eine Abrechnung machst oder wo du irgendwelche Unterlagen hinbringen musst. Und dann tausche ich mich mit dir aus über „den privaten Kram“, über Beziehungen, darüber, ob du beim Schlafen etwas anhast und wenn ja was, über nervige Dozent:innen, über Bücher und ob du das Bild des Autors auf dem Cover auch so niedlich findest. Ich bin die große Schwester, die mit ihren „kleinen Geschwistern“ auch mal lästert, rumblödelt und ab und zu mal so tut, als wäre sie eine arrogante Vampirdame.
Aber ich bin eben die große Schwester, und wenn du große Schwester bist, hast du halt auch immer ein bisschen Verantwortung und ein bisschen Autorität. Und mit beidem gehe ich ganz natürlich und souverän um. Ich bin einer der wenigen Menschen, der dich zurechtweisen kann, ohne, dass du dich danach heulend unter zwölf Decken verkriechen willst. Ich nehme auch kein Blatt vor den Mund, wenn mich etwas stört und kann mit Worten umgehen, als würde ich Messer werfen oder ein ganz feines Mosaik legen.
Ich bin eine Frau, die ihre kleinen Geschwister im Blick hat, die den Raum lesen kann und weiß, was zu tun ist, wenn irgendwer mal Hilfe braucht.
Und ich bin taff. Unglaublich taff und trotzdem sanft und einfühlsam. Ich weiß, was ich will und wie ich es erreichen kann. Ich habe die Hosen (oder den Reifrock) an, kann aber auch ohne Hose (oder Reifrock) ganz ich selber sein.
Ich bin genau am richtigen Platz zwischen erwachsen und Kind.
Und jetzt bin ich auch eine verheiratete Frau. Irgendwie komisch, sich das so vorzustellen. Wenn man mich aber kennt, geht es irgendwie um Kleider, geht es um Fräcke, um Strumpfhosen und Frisuren, um Tüll und Stoff und Faden und Stickereien und Glamour. Es passt alles irgendwie ziemlich gut ins Bild, ich als feministische, selbstbewusste, starke, schöne Person und so was patriarchales wie Heiraten. Durch mich wird Heiraten wieder ein bisschen sexy und cool. Ich glaube, das Thema Hochzeit und Braut-Sein ist der Punkt, wo Frau Hochhaus und Kerstin sich sehr, sehr nahe kommen. Da bin ich als Kerstin, die das mit den Rollen und dem Kleid und dem ganzen Gedöns drum herum lange für sich erforschen und ausloten musste, sich ihre Nische in diesem Braut-Universum erst zum Nest machen musste. Aber da bin ich auch als Frau Hochhaus, die die nestbauende Kerstin in manchen Momenten auf die stille Treppe schicken kann und sagt, was Phase ist.
Frau Hochhaus ist auf keinen Fall die „stärkere Version“ von Kerstin, nein. Das zu sagen, wäre unfair und falsch. Als Frau Hochhaus bin ich einfach die, die Listen schreibt und Protokolle wie keine andere. Frau Hochhaus ist die, die die Ideen von Kerstin nimmt und abwägt. Vor Frau Hochhaus kann man schon einen riesen Respekt haben und vielleicht auch ein bisschen Angst.
Ich bin die Frau, die ganz cool ihr Zweitfach sein lässt, weil sie merkt, dass ihr das nicht mehr gut tut und diese Entscheidung nicht siebentausendsechshundertunddreiunfünfzig mal täglich hinterfragt (wie andere es tun würden.)
Ich nähe die Kleider, die andere mit fünf, sechs beim Prinzessin spielen gerne gehabt hätte.
Ich bin stark und trage den Pelzmantel ihrer Oma.
Ich kann aber auch verletzlich sein, wenn ich mich schick mache und die Krawatte binde.
Aber vor allem bin ich Vorbild.